05.07.08

Ushiro Kenji über “genten” (1)

Ushiro Kenji, Okinawa Shindôryû Karate, Osaka, Japan
Aus dem Englischen von Stephan Yamamoto

Ursprüngliches Budô

Unsere Auffassung von Budô muß unbedingt im eigentlichen Zweck der Kampftechnik wurzeln, nämlich der Entscheidung über Leben und Tod im Zuge einer Schlacht. Darüber hinaus sollte unser Training ein tiefes Verständnis vom Leben, der Gedanken, der Persönlichkeit und des Geistes der Gründer beinhalten, deren Traditionen wir weiterführen.
Durch die Techniken, die unser Budô ausmachen, haben wir die Möglichkeit – und gleichzeitig die Verpflichtung – die Antworten zu finden, nach denen schon die Begründer selbst gesucht haben. Ich bin der Ansicht, daß es den eigentlichen Sinn des Budô bildet, wenn man diese Idee in der Gegenwart neu umsetzt.
Gleichzeitig bietet uns unser keiko (2) die Chance, Dualitäten (3) zu überwinden und unseren Körper ganzheitlich zu formen. Es ist an uns, unseren Geist zu entwickeln und durch die Einheit des Physischen und Spirituellen unsere Grenzen überwinden zu lernen.
Verlieren wir dieses Ziel aus den Augen und kommen so von unserem eigentlichen Weg ab, bedeutet dies auch automatisch den völligen Verlust dieses Weges. Unglücklicherweise haben wir meist den Punkt an dem es kein Zurück mehr gibt bereits überschritten, wenn wir diesen Verlust bemerken. Budô ist für ein solches Schicksal besonders empfänglich, da es sich um ein schwer zu beschreibendes, kulturelles Gut handelt, das direkt von Lehrer zu Schüler weitergegeben wird.
Heute erleben wir ein Aushöhlen der Kampfkunst. Es spielt keine Rolle, ob die jeweilige Disziplin Wettkampf praktiziert oder nicht: Der Trend, Budô rein als Sportart zu sehen, nimmt ständig zu.
Im Ergebnis wird die mehrfache Wiederholung von Techniken, die die Grundlage aller Kampfkunst bildet, zu etwas Oberflächlichem, während essentielle Inhalte wie Atmung und Ki zur Theorie verkommen.


Die Essenz des Budô: Harmonisierung

Die heutigen Karatestile haben die Ausbildung von Schlag- und Trittechniken und das freie Kämpfen zum Ziel. Obwohl beide den gleichen Namen tragen, haben das aktuelle Sportkarate und das Bujutsu-Karate jedoch ganz unterschiedliche Ziele.
In Bezug auf Schlagtechniken, die zweifelsohne einen der Kernbereiche des Karate bilden, hören wir oft den Ausdruck “mit einem Schlag töten.” Die Bedeutung dessen liegt dann in einer unglaublich wirkungsvollen Angriffstechnik. Wie dem auch sei, die Natur dieses Ausdrucks unterscheidet sich zwischen Sportkarate und Bujutsu-Karate ganz erheblich.
Im sportlichen Karate bedeutet “mit einem Schlag töten” einen starken Treffer zu landen. Dagegen ist im Bujutsu-Karate das primäre Ziel in den Gegner einzudringen – während man ihm damit gleichzeitig die Möglichkeit für einen Angriff oder eine Abwehr nimmt. Daher ist der Anspruch an das Training dieser beiden Sichtweisen ein jeweils völlig anderer.
Da Sportkarate das Augenmerk auf Schlagen und Treten legt, besteht das Training hauptsächlich aus der Arbeit am Makiwara und dem Sandsack. Im Gegenzug befaßt sich das Bujutsu-Karate primär mit der “Kontrolle durch Nicht-Schlagen” (4) – auch wenn das zunächst widersprüchlich klingen mag, nicht zu schlagen. Physisches Training an einem unbeweglichen Ziel ist daher von untergeordneter Bedeutung. Sicherlich kann ein solches Training eine Hilfe sein um die eigenen Fortschritte zu messen. Herkömmliches keiko legt darauf allerdings keinen großen Wert.
Schlagtechniken beinhalten den Schock des Aufpralls, „Nicht-Schlagen“ dagegen zielt auf keinerlei Schockwirkung ab. Im letzteren finden sich die Prinzipien der Harmonisierung (5), die dem echten Bujutsu-Karate zugrunde liegen.
Paradoxerweise entstammt die Energie für diese Harmonisierung der Kraft des Angriffs oder dem Potential eines starken Treffers. Harmonisierung alleine ist dabei nicht das Entscheidende, sondern sie ist lediglich Mittel zum Zweck. Sie bedeutet eher die absolute Kontrolle über Distanz und Timing, die es uns erlaubt, uns und unseren Gegner vollständig zu erfassen. Kata-Training im Karate bietet uns eine besonders effektive Methode, dies zu erforschen.
Auf die gleiche Weise wie wir die Fähigkeit Fahrradfahren nutzen und nie wieder verlernen, wenn wir es erst einmal können, werden wir die Techniken der Kata erst dann richtig anwenden können, wenn wir die Natur der Kata selbst verstanden haben. Jedoch ist die Kata kein rein körperlicher Vorgang wie das Fahrradfahren und daher schwerer zu verinnerlichen.
Könnten die Kata so benutzt werden “wie sie sind” wäre ihre Effizienz nicht in Frage zu stellen. Da aber die meisten Kata heute anders ausgeführt werden als ursprünglich in den okinawanischen Schulen, sind sie durch den rein sportbezogenen Zugang zunehmend unbrauchbar als Kampftechnik geworden. In der Konsequenz hängt es vom Lehrer ab, ob die in den Kata enthaltenen Prinzipien noch umgesetzt werden können oder nicht. In anderen Worten: Der Lehrer selbst wird zur Essenz der Kata.
Genau so wie multiplikatorische Tabellen die Basis für die Arithmetik bilden, bilden die Kata die Basis von Budô und Bujutsu. Nur durch wiederholtes Üben dieser Grundlagen können wir sie verstehen. Im Gegenzug können wir nur so konkrete Anwendungen entdecken und umsetzen. Gleichzeitig ist es ebenso wichtig, uns die Prinzipien der Harmonisierung im täglichen Leben zu eigen zu machen, da sie das Herz des Bujutsu bilden.
Schließlich bleiben die korrekten Anwendungen trotz aller meisterhaft ausgeführten Technik etwas, das erarbeitet werden muß. Es ist daher wichtig für unseren Fortschritt, uns auf die Essenz der Technik zu konzentrieren. Nur so können aus den Techniken angemessene Reaktionen innerhalb einer Angriffssituation werden. Das ist mit der Rückkehr zu den Ursprüngen des Budô gemeint.

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(1) 原点 jap. Ursprung, Ausgangspunkt. Gemeint ist “ursprüngliches” Budô.
(2) 稽古 jap. Training, Übung inner halb der Kampfkünste und der traditionellen schönen Künste Japans.
(3) Gemeint sind Gegensätze wie die Trennung von Körper und Geist oder des Menschen von seiner Umwelt, woraus scheinbar unüberwindbare Probleme entstehen.
(4) Im Originaltext heißt es “non striking control.”
(5) Im Originaltext heißt es „unification."


(Quelle: http://www.bujindesign.com)

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