10.05.09

Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß

Im Mai 1940 sah es in Großbritannien nicht rosig aus: das Land befand sich im Krieg und die konservative Regierung unter Arthur Neville Chamberlain wich einer neuen Allpartei-Koalitionsregierung. Ihr Kopf war niemand anderes als Winston Churchill. Seine Antrittsrede am 13. Mai, die eine seiner berühmtesten ist, drückte die Haltung aus, die er sowohl sich, seiner Regierung als auch dem Volk abverlangte:„I have nothing to offer except for blood, toil, tears and sweat“ („Ich habe nichts zu bieten außer Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß“). Die Extremsituation des Kriegszustandes erforderte diese Konsequenz, eine Mischung aus Arbeit, Verletzung, Verlust und Trauer.

Während sich Nationen eher unfreiwillig einer extremen Belastung aussetzen, nimmt ein Kampfkünstler, der sich ernsthaft mit der von ihm gewählten Kampfkunst beschäftigt und an ihr wächst, diese Extreme als gegeben. Im besten Falle ist ihm vor, zu oder kurz nach Beginn der Übung klar, daß der Weg, den er von nun an beschreiten wird, gepflastert ist mit Plackerei, Erschöpfung, Verletzungen und Frustration. Es ist ein wichtiger Teil seiner geistigen Haltung, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Ausnahmslos jeder Kampfkünstler kommt an Punkte, die all seine körperliche und geistige Widerstandskraft und Ausdauer fordern, um nicht an ihnen zu scheitern. Diese Momente sind die absoluten Schlüsselpunkte in der Entwicklung.

Den Schülern der muto ryu war klar, daß diese Haltung für sie unabdinglich war. Die letzte Prüfung ihrer Ausbildung war das dritte seigan, eine Marathonprüfung mit eintausendvierhundert Zweikämpfen über sieben Tage, die die physischen und psychischen Grenzen der angehenden Schwertkämpfer ausloten sollte beziehungsweise sie hinter diese Grenzen führen sollte. Der erste Kandidat dieser Prüfung war Kagawa Zenjiro. Er erinnerte sich später:"Am ersten Tag begannen die Kämpfe 6 Uhr morgens. Zehn Gegner traten mir gegenüber und bis auf eine kurze Pause zu Mittag, konnte ich mich nicht setzen oder mich meiner Übungskleidung entledigen bis ich gegen 6 Uhr Abends zweihundert Kämpfe absolviert hatte. Dies war fordernd, aber ich war in guter Verfassung. Nichtsdestotrotz sandte Tesshu Sensei am Abend einen Boten mit der Nachricht:" Du läßt nach. Du mußt mehr geben."

Am zweiten Tag entschloß ich mich, alles zu geben, was ich konnte. Tesshu Sensei instruierte meine Gegner, kein Mitleid zu zeigen. Zum Nachmittag hin litt ich unter großer Ermüdung. Irgendwie absolvierte ich die geforderten 200 Kämpfe und humpelte heim. Meine Beine waren so geschwollen, daß ich kaum aufstehen konnte, um die Toilette aufzusuchen. Gegen Ende des dritten Tages stolperte ich durch das dojo, gerade noch in der Lage zu stehen. Gerade zu diesem Zeitpunkt kam ein ehemaliger Schüler ins dojo, ein Mann, der bekannt war für seine unfaire Taktik und nichts lieber tat, als seine Gegner ernsthaft zu verletzen. Mein Schmerz und meine Erschöpfung wichen; ich konzentrierte mich vollständig auf meinen verschlagenen Gegner.. Selbst, wenn er mir den Schädel einschlagen würde, er würde ebenfalls fallen. Mein Schwert hoch über meinen Kopf erhoben war ich bereit, hinüber zu springen, um mit ihm zusammen zu treffen, als Tesshu Sensei ausrief:"Exzellent! Exzellent! Hört nun auf!" Ich war verwirrt, weil ich die erforderliche Anzahl Kämpfe noch nicht bestritten hatte, aber Sensei bat mich, nicht darüber nachzudenken und nach Hause zu gehen. Meine Frau half mir am nächsten Morgen auf die Beine. Es regnete, aber ich konnte meine Arme nicht heben, um den Regenschirm zu halten, also legte mir meine Frau eine Decke um die Schultern. Ich ging zur Übungshalle in der Gewißheit, daß dies mein letzter Tag auf Erden werden würde - ich war fest entschlossen, eher zu sterben als das seigan nicht abzuschließen. Als ich ankam, wartete Tesshu Sensei bereits auf mich. "Bereit, weiter zu machen?" fragte er mich. "Ja!" antwortete ich sofort. Zu meiner Überraschung wies mich Sensei an, zu stoppen und ließ die anderen Schüler den Übungstag abschließen." Kagawa hatte den Sinn der muto ryu erfasst und mußte nicht weiter geprüft werden.

Es sollte noch hinzugefügt werden, daß sich diese Prüfung in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zugetragen hat, also zu einer Zeit, als das Führen eines Schwertes nicht mehr dazu diente, die Unversehrtheit von Leib und Leben zu sichern.

Wie kommt jemand dazu, sich freiwillig solch einer Tortur zu stellen? Oder anders gefragt: warum bevölkern heutzutage Schüler dojos, deren Hauptbeschäftigung oftmals so aussieht, daß sie über mehr oder minder große Wehwehchen jammern? Oder noch anders gefragt: Ist der durchschnittliche Schüler überhaupt bereit, seinen geistigen und körperlichen Ist-Zustand seiner geistigen und körperlichen Entwicklung unterzuordnen?

Nehmen wir mich selbst als Beispiel: ich war physisch nie sonderlich stark. In meinem rechten Knie ist kaum noch Knorpelmasse vorhanden, in meinem linken Knie fehlt der Innenmeniskus und das innere Kreuzband ist auch hin. Mein rechtes Bein ist mehr als einen Zentimeter kürzer als sein linkes Pendant. Ich trage einen Keil im Schuh, da sonst der Hüftschiefstand Schmerzen bis in die rechte Schulter hervorruft. Ich trage eine Brille und kann seit kleinauf nicht richtig räumlich sehen. Allein diese Defizite würden mich dazu prädestinieren, ständig Ausreden zu suchen, warum ich etwas nicht tun möchte.

Nun wird gerade das kultiviert, anstatt an diesen Defiziten zu arbeiten. Ich fahre viel Rad, um die stützende Muskulatur auszuarbeiten. Durch das Laufen auf den vorderen Fußballen kann ich den Schiefstand kompensieren. Ich übe ohne Brille, um das fehlende räumliche Sehvermögen mit räumlicher Erfahrung wett zu machen. Das sind Opfer, die ich bringen muß, um an der Übung teilnehmen zu können - ohne zu jammern.

Habe ich schwache Handgelenke, muß ich die Handgelenke stärken. Habe ich einen schwachen Rücken, muß ich ihn stärken. Das gilt für jedes Defizit.

Selbstverständlich bin auch ich nicht gefeit gegen Ermüdung, Verletzung, Frust oder Wut. Aber ich bin bereit, das in Kauf zu nehmen und Opfer dafür zu bringen. Das ist die Haltung, mit der ich mich auf den Weg mache. Ich habe immer noch die Wahl, aufzuhören. Aber ich bin mir von vornherein darüber klar, worauf ich mich da einlasse.

Kagawa-san ist übrigens nur einer von dreien, die das seigan bestritten haben. Ich persönlich ziehe meinen Hut vor diesen Männern und bin doch froh, das nicht tun zu müssen. Aber selbst wenn: ich hätte es ja von Anfang an gewußt...

Das ich Churchill als Aufhänger genutzt habe bedeutet nicht, daß ich den Krieg glorifizieren möchte. Vielmehr ging es mir um das Zitat und das, was es ausdrückt. Wer allerdings glaubt, daß Kampfkunst keine Extremsituation sei, der sollte sich und seine Tätigkeit grundsätzlich überdenken. Kampfkunst ist so extrem, wie das Leben extrem ist.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Schöner Artikel, vielen Dank! Ich möchte allerdings gerne etwas ergänzen, was mir in vielen Plädoyers dieser und ähnlicher Art fehlt: Den Genuß. Meine Motivation, auch nach 10 Jahren immer noch Iaido zu üben, ist nicht zuletzt der Genuß dessen, was ich da tue. Selbst mit diversen körperlichen Beschwerden ausgestattet, ist Iaido eines der wenigen Dinge, die ich ohne Schmerzen auch stundenlang ausführen kann (Erschöpfung einmal ausgeblendet). Die Bewegungen im Iaido sind gesund und natürlich und ich mache sie gerne. Dies in Ergänzung zu anderen Budo-Tugenden ermöglicht lebenslange Freude am Training!

Sturmvogel

Herr Bambusregen hat gesagt…

Hallo Sturmvogel,

vielen Dank für die Blumen.

Den Genuß habe ich mal vorausgesetzt. Niemand rackert sich dermaßen ab, ohne "seine" Kunst zu genießen. Aber Du hast recht: es hätte einfach einmal erwähnt werden müssen!

Viele Grüße,
Bambusregen